Städtisches

Den Saalefluten auf der Spur

Idylle, Romantik, Erholung: das ist es, woran die meisten Hallenser denken, wenn von der Saale die Rede ist. Dass der Fluss auch ganz anders kann, zeigte er zuletzt im Juni 2013, als Teile der Alt- und der Neustadt evakuiert werden mussten. Die Bürgerinitiative „Pro Deich“ hat die Geschichte der Saalefluten erforscht und in einem Hochwasserlehrpfad erlebbar gemacht.

Für die Marke vom 5. Juni 2013 muss Olaf Gorgas auf die mitgebrachte Leiter steigen. Über zweieinhalb Meter hoch stand die Saale an jenem Tage über dem Spazierweg vor dem Peißnitzhaus – zu hoch, um mit ausgestreckten Armen dort hinzulangen. Am Pegel Trotha, der amtlichen Messstelle, wurden an jenem Morgen 8,16 Meter abgelesen – der höchste Wert seit 123 Jahren! Mehr als sechs Meter stand der Fluss damit über seinem normalen Level!

Gegen Hochwasser-Demenz

Für Olaf Gorgas markiert das blaue Schildchen, das er an diesem sonnigen Vormittag im März 2023 an die Metallsäule auf der Peißnitzinsel schraubt, nicht irgend eine abstrakte Größe. Denn mit seiner Familie wohnt der Großhandelskaufmann heute wie damals in einem Fünfgeschosser auf der anderen Seite des Gimritzer Damms. „Meine Frau, mein Sohn und ich mussten am 5. Juni 2013, wie Tausende Halle-Neustädter, unser Zuhause verlassen“, erinnert er sich an jene dramatischen Stunden, in denen niemand die alles entscheidende Frage beantworten konnte: „Hält der Gimritzer Damm – oder hält er nicht?“

„Wer die Saale an normalen Tagen wie heute idyllisch durch Halle fließen sieht, der verliert leicht ihre gefährliche Seite aus dem Blick“, bekräftigt Klaus-Dieter Weißenborn, der Olaf Gorgas beim Montieren der Marken zur Hand geht. Die Flut von 2013 habe auf drastische Weise gezeigt, wohin das schleichende Vergessen führe, so der promovierte Chemiker, der in jenen dramatischen Stunden am Hubertusplatz mithalf, Sandsäcke zu füllen.

Der Gimritzer Damm war bereits vor der Jahrhundertkatastrophe von einer Schutzanlage zum „Erdhügel“ verkommen, wie der amtliche Hochwasserbericht im Nachhinein feststellte. Dass die flutbedingte Notabschaltung der Straßenbeleuchtung zugleich 29 Pumpen der gerade besonders dringend benötigten Halle-Neustädter Brunnengalerie lahmgelegen würde, hatte niemand vorhergesehen. Dass viele der bis zu zehn Meter tiefen Brunnenschächte, die Neustadts Keller seit Jahrzehnten trocken hielten, versottet waren, wurde jahrelang unter Verweis auf finanzielle Zwänge mit einem „Bis jetzt hat es doch immer irgendwie gereicht“ abgetan.

Geschichte im Vorübergehen 

Die Pegelsäule vorm Peißnitzhaus soll vor diesem Hintergrund mithelfen, „das Flutgedächtnis der Hallenser wach zu halten“, wie Helga Gärtner es formuliert. Die diplomierte Tiefbau-Ingenieurin engagiert sich wie Weißenborn und Gorgas seit 2015 in der Bürgerinitiative „Pro Deich“ und hatte vor zwei Jahren die Idee für dieses Mahnmal an dem gut frequentierten Ort. „In Halle gibt es zahlreiche historische Hochwassermarken“, schildert sie ihre Überlegungen, denen auch Mitstreiter und Sponsoren rasch folgten. „Diese Marken sind jedoch im gesamten Stadtgebiet verstreut, manchmal versteckt oder für die Öffentlichkeit schwer zugänglich“. Mit der Pegelsäule sollten einige der bedeutsamsten Fluten der Stadtgeschichte „für jedermann auf einen Blick sichtbar gemacht werden“, so die Halle-Neustädterin.

Dass der Jahrhundertrekord vom Juni 2013 keineswegs das obere Ende der Metallstele markieren würde, hatte Olaf Gorgas bei der Beschäftigung mit Halles Fluthistorie gelernt. „Die Überschwemmungen von 1595, 1799 und 1890 waren nochmals fast zwei Meter höher!“ betont er, während er auf seiner Leiter viereinhalb Meter hinauf klettert. „Die Saale glich dann hier einem riesigen See, der vom Fuße der Marktkirche bis ans westliche Ende von Passendorf reichte“.

Die Pegelsäule, die diese Geschichte von nun an im Vorübergehen erzählt, ist das jüngste Highlight des Halleschen Hochwasserlehrpfads, den die Mitglieder der Bürgerinitiative „Pro Deich“ in den letzten Jahren auf den Weg brachten. „Unser Vorbild war der Hochwasserlehrpfad in Dresden“, verrät Olaf Gorgas, der mit seinem Vorschlag für ein Pendant in der Saalestadt viele offene Türen einrannte: „Halles Stadtverwaltung unterstützte unsere ehrenamtliche Arbeit ebenso wie der Landesbetrieb für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft, der Halle-Neustadt-Verein oder eine Reihe von Unternehmen, darunter die GWG“, bedankt er sich bei allen beteiligten Partnern.

400 Stunden Freizeit

 Neun Tafeln informieren an acht besonderen Orten zwischen Peißnitzhaus und Passendorfer Kirche heute „sowohl über die Historie der Saalefluten, als auch über Vorsorge-Maßnahmen gegen künftige Überschwemmungen“. So fasst der Mitarbeiter eines Kfz-Teile-Großhandels kurz und knapp zusammen, worin seine Mitstreiter und er seit 2018 insgesamt gut und gern 500 Stunden ihrer Freizeit investierten. „Über QR-Codes, die sich per Handy einscannen lassen, können Interessierte sogar weiterführende Informationen bis hin zu Videos vom Hochwasser 2013 abrufen“, wirbt Gorgas für ein tieferes Eintauchen in das Thema Saalefluten.

Dass sich Bürger so entschlossen und über so viele Jahre hinweg für den Hochwasserschutz engagieren wie die Neustädter und Neustädterinnen in der Initiative „Pro Deich“, das erlebt Frank Friedrich eher selten. „Wenn eine Flut hereinbricht, ist die Hilfsbereitschaft meist riesig und der Ruf nach mehr Schutz sehr laut“, sagt der Fachbereichsleiter Grundlagen beim Landesbetrieb für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft (LHW). Doch je länger das Ereignis zurück liege, desto mehr ebbe „auch das Bewusstsein für notwendige Vorsorgemaßnahmen ab.“ Dann blieben zumeist die Gegner von Deichen und Poldern wahrnehmbar, „die sich bedeutend häufiger organisieren“.

Stimme für Halle-Neustadt

Das erlebte GWG-Mieter Klaus Henseleit nur Monate nach der Jahrhundertflut in den Debatten um den Neubau des Gimritzer Damms. „In Diskussionsveranstaltungen trugen vor allem Bewohner der Altstadt ihre Argumente vor. Die Interessen von bis zu 15.000 Neustädtern, die ohne intakten Deich dem nächsten Hochwasser schutzlos ausgeliefert sein würden, waren hingegen kaum hörbar“, wunderte sich der einstige Software-Entwickler, der seit 1971 im Mustangweg, einem der hochwassergefährdeten Bereiche der Neustadt, wohnt.

Als das hallesche Verwaltungsgericht im März 2015 den bereits begonnenen Deichneubau im Bereich der Halle-Saale-Schleife stoppte, wollte Henseleit nicht mehr länger nur Zuschauer sein. Er griff zum Telefon und gründete mit sechs Getreuen wenige Tage später die „Initiative „Pro Deich“, die bald weitere Mitstreiter vereinen konnte. „Nur drei Monate nach der Gründung veranstalteten wir einen Deichtag mit einer Menschenkette aus 160 Personen auf dem Gimritzer Damm“, berichtet Henseleit. Ein Jahr später folgte ein Hochwasser-Forum im Mehrgenerationenhaus „Pusteblume“. „Wir brachten unsere Standpunkte in das Planungsverfahren für den Wiederaufbau des Deiches ein, nahmen als Betroffene an Anhörungen teil, sagten unsere Meinung bei öffentlichen Foren, verfolgten Gerichtsverhandlungen und kontaktierten Politiker bis hin zum Ministerpräsidenten“, zählt der „Pro Deich“-Gründer wichtige Aktivitäten der Initiative aus den zurückliegenden acht Jahren auf. Zu denen ab 2018 auch die Entwicklung und Umsetzung des Hochwasserlehrpfads gehörte.

Der insgesamt rund fünf Kilometer lange Weg ist „mit dem Fahrrad in zwei Stunden recht bequem zu bewältigen“, ermutigt Helga Gärtner, die mit ihren über 80 Lenzen ohne Elektroantrieb unterwegs ist, zu einer Entdeckungstour. Die könne man ebenso gut in zwei Etappen angehen – „dann sogar zu Fuß“, fügt sie hinzu. Neugierige sollten allerdings lieber großzügig Zeit einplanen, rät sie, denn auch links und rechts der Schautafeln gebe es jede Menge zu entdecken: „Vom Passendorfer Kirchteich über die Brunnengalerie, von der Pferderennbahn bis zum Peißnitzhaus rücken da einige Attraktionen in den Blick, die einen Abstecher lohnen“, weiß sie aus eigener Erfahrung.

Die aus Sicht der Halle-Neustädter Aktivisten wichtigste Station des Lehrpfades aber ist und bleibt der neue Gimritzer Damm. Ihr Fazit über das Ergebnis der jahrelangen Auseinandersetzungen (siehe Infokasten Seite ….) fällt salomonisch aus: „Die heutige Lösung ist technisch und auch unter Umweltgesichtspunkten sicher besser als der 2015 gestoppte Deichneubau“, sagt Klaus-Dieter Weißenborn, während er mit Olaf Gorgas und Helga Gärtner den breiten Radweg auf der Deichkrone entlang radelt. „Aber wir können von Glück reden, dass die Saale Klägern, Planern, Gutachtern, Juristen und vor allem den Halle-Neustädtern die acht Jahre Zeit gelassen hat, um zu dieser Lösung zu kommen.“

Ziel erreicht? Weiter geht's!

Mit der Fertigstellung des 1.200 Meter langen Hochwasser-Bollwerks im September 2022 hatte sich das ursprüngliche Ziel der Bürgerinitiative „Pro Deich“ erfüllt. Auf der Versammlung, bei der Ende letzten Jahres die Auflösung auf der Tagesordnung stand, beschlossen etwa zehn Teilnehmer jedoch das Gegenteil. „Wir haben in den letzten Jahren viel gelernt über Hochwasser und Hochwasservorsorge, haben ein breites Netzwerk zu Experten, Behörden und Unternehmen aufgebaut. Und wir sind ein wirklich tolles Team“, findet Olaf Gorgas, der wie die anderen in diesem Beitrag Genannten zu diesen Unentwegten zählt: „Das alles möchten wir nutzen, um weiterhin über Flutgefahren aufzuklären und für Hochwasservorsorge werben.“

Nächste Aktivitäten, etwa zum zehnten Jahrestag der Flut von 2013 oder zum kommenden Neustadt-Fest, sind bereits in Planung. Und dann gibt es da noch den Hochwasser-Lehrpfad, für den die „Pro Deich“-Mitglieder die ehrenamtliche Patenschaft übernehmen. Dazu gehöre nicht nur, die Tafeln von hin und wieder auftretenden Schmierereien zu befreien, betont Gorgas: „In der Altstadt gibt es noch zahlreiche Spots zur Hochwassergeschichte und Flutvorsorge. Es wäre wunderbar, wenn der Lehrpfad die Besucher künftig auch dorthin lenken würde.“

Der Gimritzer Damm…

… geht auf Planungen unter Halles Oberbürgermeister Richard Robert Rive aus den 1920-er Jahren zurück. Fertiggestellt 1937, bildete der Deich mit dem gleichaltrigen Passendorfer Damm und der in den 1970-er Jahren errichteten Brunnengalerie das rund vier Kilometer lange Hochwasser-Bollwerk für Halle-Neustadt. Nach schwerer Schädigung durch das außergewöhnlich schwere Hochwasser 2011 musste der Gimritzer Damm während der Jahrhundertflut von 2013 durch den Krisenstab letztlich preisgegeben werden. Tausende Einsatzkräfte und freiwillige Helfer hatten ihn in den Tagen zuvor mit Hochwasserschutzschläuchen und 330.000 Sandsäcken erhöht und nach Kräften stabilisiert. Nur der Rückgang des Pegels im allerletzten Moment bewahrte die Neustadt vor einem Dammbruch, der die Häuser von bis zu 15.000 Menschen teils unbewohnbar gemacht hätte. Nach einem gestoppten Deichneubau im Bereich der Halle-Saale-Schleife und einem juristisch umkämpften Planungsprozess wurde 2021 endlich mit dem Wiederaufbau entlang der alten Deichlinie begonnen.

Den Kern des vier Millionen Euro teuren Bauwerks bildet eine 1.200 Meter lange Stahlbetonwand. Sie überragt den Deichkörper um etwa einen halben Meter und ruht auf 435 unterirdischen Pfählen, die den natürlichen Grundwasserströmen ihren Lauf lassen. Einem Hochwasser wie 2013 kann der Gimritzer Damm heute Paroli bieten. Die drei Meter breite Fußgänger- und Fahrradpromenade auf der Deichkrone dient im Ernstfall als Transportweg für Einsatzkräfte und Material.

Der Hallesche Hochwasserlehrpfad…

… nimmt Neugierige und Passanten mit auf eine Entdeckungsreise auf den Spuren historischer Saalefluten und informiert über Schutzmaßnahmen gegen heutige und künftige Überschwemmungen. Die acht Tafeln zu den unten genannten Themen wurden zwischen 2018 und 2020 im Rahmen eines von der Stadt geförderten ehrenamtlichen Umweltprojektes durch die Bürgerinitiative „Pro Deich“ erarbeitet.

  • Rennbahnkreuz/ Einfahrt Halle-Saale-Schleife: Einführung in den Hochwasser-Lehrpfad
  • Gimritzer Damm: Geschichte, Bedeutung und erfolgreiche Modernisierung
  • Ehemalige Eissporthalle: Aus Schaden klug werden
  • Peißnitzhaus: Baurisiken im Überflutungsgebiet. Pegelsäule: Historische Hochwassermarken der Stadt
  • Gut Gimritz: Leben am Fluss gestern und heute
  • Passendorfer Damm: Hochwasserschutz und Meldestufen
  • Schöpfwerk: Zuverlässige Entwässerung für die Brunnengalerie bei Hochwasser
  • Passendorfer Kirche: Hochwassermarken der Extremfluten von 1365, 1595 und 1799

Eine Erweiterung um Stationen im Bereich der Altstadt wird angestrebt.

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